Take back control?

Großbritannien nach dem EU-Referendum

 

March for Europe in London am 02. Juli 2016 (https://www.flickr.com/photos/alexwhite/27962076431/)
March for Europe in London am 02. Juli 2016 (https://www.flickr.com/photos/alexwhite/27962076431/)

von Michael Freckmann

 

Die Parteieliten bieten ein chaotisches Spektakel, aber vor allem ist das Land nach innen gespalten – gerade die Jungen haben für einen Verbleib votiert. Und nun?

 

Nach dem Referendum erklärte Premier Cameron sofort seinen Rücktritt. Nun sei der Weg frei sei für Boris Johnson, dachten viele, das Gesicht der Brexit-Kampagne, der landauf, landab mit dem Slogan „Let’s take back control“ Wahlkampf machte. Als plötzlich sein Kollege im Brexit-Lager, Justizminister Michael Gove, zwei Stunden vor Johnsons eigentlicher Kandidatur bekannt gegeben hatte, selbst kandidieren zu wollen, zog sich Johnson zurück und sein Vater twitterte Julius Caesars Worte während des Attentats auf ihn: “Et tu, Brute?”. Am Ende konnte sich dann die ehemalige Innenministerin Theresa May als neue Premierministerin durchsetzen. Und Boris Johnson tauchte als neuer Außenminister wieder auf.

 

Mittlerweile hat auch der Chef der rechtspopulistischen United Kingdom Independence Party (UKIP), die Jahrzehnte auf dieses Ziel hingearbeitet hat, seinen Rückzug erklärt - bevor der schwierige Aushandlungsprozess mit der EU und der eigentliche Austritt abgeschlossen ist. Der Labour-Oppositionchef Jeremy Corbyn hat ein Misstrauensvotum in der Fraktion verloren, tritt aber bisher nicht zurück. Ihm und seiner Parteiführung wird vorgeworfen, als Linke in der Partei, noch dazu mit einer zögerlichen Positionierung für den EU-Verbleib, das eigene Klientel aus Arbeitern, Arbeitslosen und Kleinverdienern nicht mehr zu erreichen. Gerade diese Teile der Gesellschaft haben im Referendum für den Ausstieg gestimmt und sind auch bereits bei der letzten Parlamentswahl scharenweise von Labour zur rechtspopulistischen UKIP übergelaufen.

 

Wie sich die Situation weiter entwickeln wird, kann seriöserweise niemand sagen. Dass die Remainkampagne keine zündende Idee von der EU liefern konnte, und von den Leavers gemachte Versprechen nun schnell wieder geräumt werden und jene offensichtlich keinerlei Plan haben, grenzt schon an eine Bankrotterklärung eines Teils der politischen Eliten. Die Gewinner der Abstimmung zögern nun, den Austrittsprozess auszulösen, wonach Großbritannien für die Aushandlungen noch mindestens zwei Jahre Mitglied in der EU wäre. Über ein neues Referendum, wie über ein Überstimmen des Ergebnisses durch das Parlament, das hieran formal nicht gebunden ist, wird diskutiert. Beides ist aber unwahrscheinlich. Derweil könnte die EU-Ablehnung in Europa zu weiteren Höhepunkten kommen. Im Herbst wird die österreichische Bundespräsidentenwahl wiederholt, bei deren erstem Versuch der Rechtspopulist Hofer die Mehrheit nur um knapp mehr als 30.000 Stimmen verfehlte. Im nächsten Jahr stehen Bundestagswahlen und die französische Präsidentschaftswahl an, bei welcher der rechtspopulistische Front National dabei eine Chance hat, die Präsidentin zu stellen.

 

Alle nun folgenden Verantwortlichen in Großbritannien müssen aber mit einer Spaltung in der britischen Gesellschaft zurechtkommen. Zwischen den Groß- und insbesondere Universitätstädten als Remain-Hochburgen einerseits und den kleinen Städten und dem Land andererseits, die für Leave gestimmt haben. Zwischen England, das sich gegen die EU ausgesprochen hat und auf der anderen Seite Schottland, Nordirland und der Region London, die bleiben wollten. Besonders heraus sticht der Unterschied zwischen Jung und Alt. So haben die jüngeren Wähler zu etwa 70% für einen Verbleib in der Europäischen Union gestimmt.

 

In einer Nachwahlumfrage kam heraus, dass gerade die Jungen nun befürchten, nicht mehr problemlos in der EU reisen und wohnen und zu einer „EU-Community“ gehören zu können. Zudem reagierten sie sehr emotional auf die Leave-Befürworter. Jene EU-Gegner wiederum, eher in kleinen Städten und im ländlichen Bereich zu Hause, leiden seit Jahrzehnten unter der durchgeführten Deindustrialisierung des Landes, unter sinkenden Löhnen, schlechten Arbeitsverhältnissen und steigender Kriminalität. So muss dieses Referendum aus ihrer Sicht auch als Misstrauensvotum gegen „die Elite“ gelten. Dass gerade diese Menschen wahrscheinlich unter dem Ergebnis nun noch mehr leiden werden, weil, wie der britische Journalist Gary Younge bemerkt, „we have not opted out of global capitalism“, wird ebenfalls deutlich.  Es zeigt sich aber auch, wie weit diese beiden Teile der Gesellschaft in ihren Ansichten auf gegenseitiges Unverständnis stoßen.

 

Zudem war die Wahlbeteiligung bei den Jungen aber niedriger als bei den anderen Altersklassen. Dass also die größten Befürworter eines Verbleibs sich in Teilen - ob nun desinteressiert oder desillusioniert – der Wahl enthielten, ist ebenfalls Teil des Problems. Die Frage ist nun, ob sich diese Unzufriedenheit in konstruktives Handeln umwandeln lässt und nicht wieder in Gleichgültigkeit verpufft.  Sollte von den nun Enttäuschten über Einzelinitiativen hinaus eine Bewegung hin zu mehr langfristigem Engagement ausgehen, könnte hiervon ein Beispiel ausgehen - auch für eine bisher oftmals ähnlich eingestellte Jugend andernorts in Europa.