von Patrick Dehne
In den Semesterferien ist es an der Uni Göttingen für gewöhnlich eher ruhig. Nicht so am Nachmittag des 15. Februar. Kevin Kühnert, der seit
dem 9. Februar im Rahmen seiner No-GroKo-Kampagne durch Deutschland tourt, trat im Zentralen Hörsaalgebäude auf. Es war die vierte und bis dahin zuschauerstärkste Station des 28-jährigen
Juso-Bundesvorsitzenden.
13:30 Uhr: Vor dem ZHG 006 stellt ein Reporter von Antenne Niedersachsen Scherzfragen zu Kühnert und der SPD. Da kommen Fragen wie: „Wenn die
SPD deine Freundin wäre, wie oft hättest du dann in letzter Zeit Schluss gemacht?“. Aufgrund des großen Besucher*innenandrangs wird noch zweimal der Raum gewechselt, im größten Hörsaal des ZHG
(011) finden schließlich alle Platz. Kühnert schreitet eher unauffällig mit dunklem Hemd und Rucksack ein und wird bereits von Kameras umringt. Um 14:10 Uhr geht es dann mit leichter Verspätung
los.
Hannes Keune vom Göttinger Institut für Demokratieforschung leitet ein und erwähnt, dass der heutige Vortrag aus der Reihe falle, es solle
diesmal keine Diskussion zwischen GroKo-Gegner (Kühnert) und GroKo-Befürworter*in werden. So beginnt Matthias Micus vom Göttinger Institut für Demokratieforschung mit einem zehnminütigen
Input-Beitrag. Der 40-Jährige Parteienforscher hat sich bereits vielseitig mit der Sozialdemokratie und der Erosion der Volksparteien auseinandergesetzt und bezeichnet sich weder als klaren
Gegner, noch als kategorischen Befürworter der GroKo. Und er startet gleich mit einem Gag: „Ich hätte nicht gedacht, dass die Sozialdemokratie so viele Leute mobilisieren kann.“ Ein Lacher geht
durch das große Publikum.
Nun wird es aber ernsthafter: Micus stellt erst einmal klar, dass er den Begriff „Große Koalition“ angesichts der rund 53 Prozent der
Wähler*innen, die Union und SPD auf sich vereinen, für fehlleitend hält, „rechnerische Minimalkoalition“ sei passender. Er betont, die SPD habe seit 2003 (Agenda 2010) überwiegend Wahlen
verloren, unabhängig von ihrer Regierungsbeteiligung. Auch lässt er die These nicht gelten, Juniorpartner der CDU zu sein, schade der SPD zwangsläufig. Dagegen sprächen Wahlerfolge der SPD nach
GroKos auf Länderebene. Des Weiteren habe sich die SPD in den Koalitionsgesprächen weit über ihre Wähler*innenstärke hinaus durchgesetzt, auch 2013 schon. Außerdem übt Micus Kritik an der
Ansicht, linke Parteien sorgten prinzipiell für mehr Gleichheit, dafür zieht er unter anderem die Positionen von Linken-Politiker*innen wie Sarah Wagenknecht bezüglich der Flüchtlingspolitik
heran. Auch die Rot-Grüne Koalition unter Schröder habe mit der Agenda 2010 für mehr Ungleichheit gesorgt als die ihr folgenden Großen Koalitionen. Ebenfalls kritisch geht Micus auf die
Ausdünnung der Mitte sowie auf die Möglichkeit einer Minderheitsregierung ein. Letztere habe zum Beispiel in Schweden eine rechte Partei im Parlament nicht verhindert und sorge für Enthaltungen
der Opposition in wichtigen Fragen. Zudem fordert er von der SPD, zu definieren, was sie unter Sozialdemokratie versteht und betont, eine programmatische Erneuerung sei immer möglich.
Grundsätzlich begrüßt er, dass die Jusos mit ihrer Kampagne für Debatten sorgen, übt aber Kritik an der homogenen Personalstruktur unter den Jusos. Im Bundesvorstand sitzen nur Studierte. Geht es
jedoch um die Wähler*innenschaft, müsse man versuchen das „gebildete, ökobewusste, multikulturelle Akademiker-Links“ mit dem „restproletarischen Prekariats-Links“ zu vereinbaren. Zum
Schluss nennt Micus einige Kernbegriffe, über die die SPD die „Diskurshoheit“ erlangen müsse, unter anderem Investitionen vonseiten des Staates und wirtschaftliche Effizienz mit
Umverteilung.
Nun ist der große Hoffnungsträger der GroKo-Gegner mit seinem Beitrag dran. Kühnert betritt die Bühne, wirkt gefasst und souverän, obwohl er
mit seinen 28 Jahren ohne Weiteres als Student in Göttingen durchgehen würde. Er beginnt sachlich, macht die „Schicksalsfrage der SPD“ nicht zwingend von der GroKo abhängig. Nur der Ausschluss
einer Großen Koalition reiche nicht für eine Erneuerung der Partei. Auch bezeichnet er beide Thesen, einerseits die SPD gehe in einer GroKo automatisch unter, andererseits die SPD erhole sich
automatisch in der Opposition, als zu einfach. Zunächst gibt sich der GroKo-Gegner bescheiden: „Wir haben auch nicht alle Antworten.“ Aber er nennt einiges, das ihm definitiv nicht passt. Da ist
von „einschläferndem Konsens“ die Rede, der aufgebrochen werden müsse. Das Establishment müsse herausgefordert werden, die SPD habe verlernt, sich auf zentrale Fragen zu verständigen. Auch
Selbstironie (bezogen auf seine Partei) beherrscht Kühnert: Zum Innenleben der Partei stellt er klar, dass man da „nicht immer was verpasst“, was zahlreiche Lacher unter den circa 800 Zuschauern
hervorbringt. Der 28-Jährige fordert eine Debattenkultur, spricht mit Blick auf den Parteivorstand (in dem er sitzt, aber kein Stimmrecht hat) von „Bräsigkeit und Selbstzufriedenheit“. In der
großen Differenz zwischen den Meinungen von Vorstand und Basis sieht er eine Gefährdung des Zusammenhalts der Partei, daher fragt der Juso-Vorsitzende kritisch nach der übrig gebliebenen
„Bindekraft der Partei“. Die Agenda 2010 betitelt der Jungsozialist als „Katastrophe“, auch die breite Repräsentation verschiedener Gesellschaftsgruppen sieht er in der SPD als nicht mehr
ausreichend gegeben. Es seien zum Beispiel zu wenig junge Leute an wichtigen Debatten wie den Sondierungen beteiligt. Hier greift er die Kritik von Micus auf und räumt ein, die Jusos verträten
junge Leute nicht in ganzer Breite.
Weiter geht es mit zentralen Forderungen und Kritik. Kühnert wird energischer: Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Umwelt seien Themen, in
denen konkrete Antworten immer wieder in die Zukunft verschoben würden. Daher verstehe er die „tief sitzende Enttäuschung“ in großen Teilen der Bevölkerung. Das von der CSU durchgesetzte
Heimatressort im Innenministerium bezeichnet Kühnert als „rhetorische Rolle rückwärts in die 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts“ – und erntet reichlich Beifall. Fast spielerisch verteilt er noch
kurz einen Seitenhieb an die FDP, um dann wieder auf die Fehlzustände in seiner eigenen Partei zurückzukommen. Kühnert wirft die Frage auf, warum sich die IG Metall mehr mit der Arbeit im Rahmen
der Digitalisierung auseinandersetze als die SPD. Auch ein Alleinstellungsmerkmal fehlt ihm in der SPD: „Was ist die exklusive Zuschreibung zur Sozialdemokratie?“ Die Chance auf solch ein Merkmal
sieht er in der Ablehnung der Großen Koalition. Die „Endlosschleife“ von GroKos hingegen könnte gar der Demokratie nachhaltig Schaden zufügen. Damit schließt Kühnerts etwas mehr als zehnminütiger
Input-Beitrag. Auffallend sind die Gelassenheit und Sicherheit, die der Berliner beim Reden ausstrahlt, sowie das Festhalten an seinem Prinzip, auf der Inhaltsebene zu bleiben und die
Personaldebatte nur als ein weiteres Problem der SPD anzusprechen. Sich daran beteiligen oder selbst ins Spiel bringen will er weiterhin nicht.
Nach den Monologen geht es gemischter weiter. Den Anfang macht Hannes Keune mit der Frage, was eine linke Volkspartei eigentlich ausmacht.
Kühnert entgegnet, dass es auf jeden Fall falsch wäre, bei der Beantwortung dieser Frage in die Vergangenheit zu schauen. Dabei schwingt viel Kritik an der Initiative zu einer „Neuen linken
Volkspartei“ von Lafontaine und anderen mit, die sich größtenteils für populäre linke Themen einsetze und unpopuläre aber wichtige linke Themen (zum Beispiel den Kampf gegen das Ausspielen von
Geflüchteten gegen sozial Schwache) außen vor lasse. Für Kühnert müsse linke Programmatik mit gesellschaftlicher Liberalisierung Hand in Hand gehen. An seiner eigenen Partei hat er mit Betracht
auf linke Programmatik auch einiges auszusetzen: Beispielsweise für die Vermögenssteuer habe die SPD im letzten Wahlkampf eine Kommission eingerichtet, die bisher aber noch kein einziges Mal
getagt habe.
Anschließend äußert sich Micus zur SPD. Volksparteien müssten „den Spagat hinbekommen“, im Fall der SPD sei die Arbeiter*innenschaft nur der
„feste Boden“, von dem aus man auch andere Gruppen erreichen müsse. Die SPD wisse außerdem selbst nicht mehr, was soziale Gerechtigkeit ausmacht. Die Personaldebatten nennt Micus „ekelhaft“ und
erntet schallenden Applaus. Besonders ohne Inhalte („nackt“) seien solche Debatten gefährlich, auch fehlen ihm „konkrete Utopien“. Kühnert hört die ganze Zeit über konzentriert zu und macht sich
Notizen.
Jetzt ist es 15 Uhr und das Publikum ist am Zug, die erste Hand fährt nach oben, noch bevor Keune die Diskussionsrunde zu Ende angekündigt hat.
Es wird gesammelt, Kühnert macht sich Notizen und arbeitet dann jeweils drei Fragen am Stück ab. Bei der Frage nach der Rolle der Ortsvereine sei eine erleichterte Beteiligung, zum Beispiel
online, nötig, allerdings müssten Inhalte klar die höchste Priorität haben, da diese die Wähler*innen weit mehr interessierten als Parteistrukturen. Warum es 2013 nicht mit Rot-Rot-Grün geklappt
hat, beantwortet Kühnert mit „zu großen Differenzen“, auch wenn man sich stets eine solche Alternativoption offenhalten müsse, um die SPD nicht „zu verzwergen“. Dabei geht er auch auf die
Landesregierung in Berlin ein, wo es zwar nicht perfekt, aber auch nicht schlecht laufe. Wichtig sei eine Begegnung „auf Arbeitsebene“ mit den Linken. Bei der Frage nach dem Umgang mit
Waffenexporten kann sich Kühnert die Kritik an Gabriel nicht verkneifen, der sein selbstgesetztes Ziel, die Waffenexporte zu reduzieren, klar verfehlt hat. Da könne der geschäftsführende
Außenminister die Schuld auch nicht auf von Vorgängerregierungen geschlossene Verträge schieben. Mit der Frage nach dem bedingungslosen Grundeinkommen als potenzielles Alleinstellungsmerkmal
konfrontiert, stellt Kühnert klar, dass er dies nicht als Alleinstellungsmerkmal ausmacht. Außerdem glaubt er nicht, dass den Menschen in Zukunft die Arbeit ausgehen wird. Zentral hingegen ist
für ihn die Diskussion um die Schaffung von mehr Flexibilität für Arbeitnehmer*innen. Auf die Personalquerelen angesprochen, behauptet Kühnert, viele in der SPD hätten noch nicht erkannt, dass
Mandate und überhaupt die Existenz der Partei kein Naturgesetz seien. Er verstehe, dass „von außen alle angekotzt sind“. Dieser „Misserfolg der Anderen“ sei der eigentliche Grund für den
derzeitigen Erfolg der Jusos, wieder gibt sich der Wortführer der No-GroKo-Kampagne bescheiden. Interessant wird es noch einmal bei der Frage, wie die SPD im Fall von Neuwahlen aufgestellt ist.
Darauf hat Kühnert keine „ultimative Antwort“. Er fordert allerdings eine inhaltliche Neuausrichtung der SPD. Die Frage der Vermögensverteilung solle kein „Instrumentenfetisch“ werden, allerdings
müsse wenigstens eine konkrete Forderung gestellt werden. Auch sollten Punkte klarer benannt werden, anstatt sie schon vorher so zu formulieren, dass die Verhandlungen für eine Große Koalition
dadurch leichter werden. Die schwarze Null lehnt Kühnert klar ab, der Staat „darf sich nicht zurückziehen“ und solle den Investitionsstau beenden. Außerdem müssten haltbare Versprechungen gemacht
werden.
Zum Schluss meldet sich noch einmal Micus zu Wort. Er kritisiert das „kurzfristige Denken“ der Jusos und betont die Notwendigkeit einer
konkreten Alternativoption zur GroKo. Eine fehlende Alternative sieht er auch bei der Krankenversicherungsfrage, die SPD wolle zwar eine Bürgerversicherung, aber habe dafür im Arbeitsministerium
nicht einmal eine Arbeitsgruppe eingerichtet. Nun ist es 15:40 Uhr, die Zeit ist um, schon bald muss Kühnert weiter nach Hannover. Keune schließt die Veranstaltung mit dem Scherz „Matze (Micus)
braucht die SPD über 25 Prozent“ (für seine Forschung) und schenkt Kühnert noch das Buch „Die SPD – Biographie einer Partei“ von Franz Walter. Dann leert sich auch schon der Raum und Kühnert wird
von einer Traube aus Kameras und Mikrofonen umringt.
Drei Dinge hat Kevin Kühnert an diesem Tag klargestellt. Erstens kann die SPD offensichtlich noch einige Leute mobilisieren, auch wenn
hier zynisch angemerkt sein soll, dass dies nur das letzte Aufbegehren vor dem Untergang der über 150 Jahre alten Partei sein könnte (am Donnerstagabend landete die SPD im „ARD-DeutschlandTrend“
bei historisch schlechten 16 Prozent). Zweitens polarisiert der junge Medienstar der SPD offensichtlich so stark, dass sogar die „Bild“ ihn am folgenden Freitag auf dem Titelblatt
platzierte, wenn auch nur mit der willkürlichen Vermutung einer Schmutzkampagne: Kühnert wird vorgeworfen, mit Hilfe eines russischen Internet-Agiators zu versuchen, die GroKo zu verhindern
(mithilfe gefälschter Facebook-Accounts). Beweise oder wenigstens aussagekräftige Indizien braucht es da nicht für eine Titelgeschichte – nur den Medienrummel um Kühnerts Person. Drittens
versucht Kühnert, wieder eine klare Debattenkultur in der SPD zu etablieren, die sich auf Inhalte und nicht auf Personalien konzentriert. Ob er der SPD mit seiner Werbung gegen die große
Koalition nun schadet oder hilft, sei dahingestellt, klar ist jedoch: Es gibt viele, die solche Debatten schmerzlich vermissen. Der zahlreiche Applaus, den Kühnert und Micus an diesem Tag für
ihre Kritik am aktuellen Politikstil ernten, zeigt, dass sich wohl einiges ändern muss, damit die SPD, aber vielleicht auch die gesamte politische Mitte, überleben kann. Dafür spricht nicht
zuletzt, dass die AfD die „Volkspartei“ SPD in aktuellen Umfragen (Stand: 17. Februar 2018) zu überholen droht. Egal wie die ca. 460.000 SPD-Mitglieder abstimmen, der Niedergang der Volksparteien
schreit geradezu heraus: Ein „weiter so“ ist die falsche Antwort, ob die große Koalition nun zustande kommt oder nicht.
Die ganze Diskussion als Video:
http://www.demokratie-goettingen.de/blog/spd-groko-oder-opposition